Frank Berger »Oxford Street« 2004

Dem Ausstellungsbesucher zeitgenössischer Kunst sind Projektionsräume längst vertraut. In den verdunkelten Kabinetten begegnen ihm bewegte Bilder, zumeist Videos, die über einen Datenprojektor an die Wand »gebeamt« werden. Die aktuelle Konjunktur dieser Arbeiten zeugt von der Faszination der Kunst für die narrative Kraft des Films und für das Kino als Ort großer Illusionen. Die hierbei bevorzugte Auseinandersetzung mit Wirklichkeit aus zweiter Hand, recycelt aus den unterschiedlichen medialen Oberflächen wie Fernsehen oder Internet, scheint der ästhetik des digitalen Videobeams in besonderer Weise zu entsprechen.

In den Räumen hingegen, die der Leipziger Fotograf Frank Berger mit seinen Diaprojektionen füllt, wird der Betrachter mit einem jähen Einbruch von äußerer Wirklichkeit konfrontiert. Wie durch ein Schaufenster geben die großformatig an die Wand geworfenen Fotografien den Blick auf eine großstädtische, scheinbar alltäglichen Szenerie frei, in der sich durch die Abfolge der projizierten Bilder immer neue, leicht variierenden Konstellationen des vorbeiziehenden Straßenlebens einstellen. Für die Präsentation seiner neuen Arbeit »Oxford Street« hat Frank Berger die Projektgalerie des Kunstvereins Leipzig in einen solchen Schauraum des Urbanen verwandelt.

»Oxford Street« besteht aus einer Sequenz von 60 Fotografien (Dias, 6 x 7 cm), die von lichtstarken Projektoren detailreich, wandfüllend und in überblendtechnik projiziert werden. Auf der Ebene der Referenz zeigen die Aufnahmen von »Oxford Street« nicht mehr als einen einzigen, relativ eng gefassten Straßenabschnitt von Londons berühmter Flaniermeile, sie repetieren ein- und dieselbe Einstellung der Kamera, die von der gegenüberliegenden Seite über die Straße und den breiten Gehweg hinweg auf die Fassade eines Kaufhauses gerichtet ist. Auf der Ebene der Darstellung übersetzt das fotografische »Standbild« das fließende Nebeneinander von Passanten, Fahrzeugen und architektonischer Kulisse in eine synchrone Sichtbarkeit: Alles steht still und ist in ungewöhnlicher Schärfe zu sehen. Zugleich jedoch scheint die Projektion als Bildabfolge die Straßenszene wieder zu animieren, sie dreht die still gestellte Zeit um einen Moment weiter und verleiht der Arbeit somit eine latent cinematisierte Struktur. Gerade in dieser unmittelbaren Nähe wird die Differenz von Fotografie zum Film besonders wahrnehmbar.

Der insistierende Blick des Fotografen verwandelt den Straßenabschnitt in eine Bildbühne, auf der einzig das urbane Mobiliar aus Schaufenstern, Ampeln, Fahrrädern und Mülleimern das wechselnde Bildpersonal überdauert. Zum Bestandteil dieses Mobiliars scheint eine Frau zu gehören, die zu der Zeit (an den Tagen), als der Fotograf seine Aufnahmen tätigte, sich mit einer Hinweistafel für ein benachbartes Lokal unter die Passanten mischte und sich als ein lebender Werbeträger verdingte. Assoziationen an den »Sandwichman« aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise werden wach, der sich mit Reklameschildern behängt durch die Straßen schob und in dem Walter Benjamin bereits damals eine Prothese des Kapitalismus und die »letzte Inkarnation des Flaneurs« zu entdecken glaubte. Mit zunehmender Dauer der Projektion erweist sich diese Figur in ihrer stupiden Tätigkeit als der »konstante Faktor« in Bergers urbanen Theater, ihre verlässliche Präsenz in den Bildern steht in einem beunruhigenden Kontrast zur Kontingenz des Alltagslebens, das von den Fotografien festgehalten wird.

Mit dem Bild der Straße, der Kontingenz des fotografischen Ausschnitts, dem Detailreichtum der Aufnahme sind Charakteristika genannt, welche die Arbeiten von Frank Berger im Kontext aktueller Projektionskunst als eine spezifisch fotografische Position erscheinen lassen. Als gemeinsames Kind von Laterna Magica und Camera Obscura entwickelte sich die Diaprojektion seit ihrem Aufkommen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Präsentationsweise, die den exzessiven Informationsgehalt des Lichtbilds wie keine andere herauszustellen wusste. Nach ihrer Karriere als pädagogisches Lehrinstrument, als bevorzugtes Medium der privaten Heimabende und der kommerziellen Tonbildschauen erweist sich die Diaprojektion im Rückblick – am Ende des fotografischen Zeitalters – als eine urfotografische Erscheinungsform von Fotografie und als ein vielschichtiges Medium für die Kunst.

Die Arbeiten von Frank Berger kreisen nicht zuletzt um einen zentralen und alten Streitpunkt des fotografischen Diskurses, den man als den Erkenntniswert des Sichtbaren bezeichnen könnte. Zwar macht die »Errettung der äußeren Wirklichkeit« nach Siegfried Kracauer das Spezifische einer fotografischen (wie filmischen) ästhetik aus, zugleich jedoch wurde von prominenten Kritikern der »einfachen Wiedergabe von Realität« jeder weiterreichende Erkenntniswert abgesprochen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei zu komplex, als dass sie von einer noch so nüchternen fotografischen Darstellung zu analysieren wäre, hinter der sich oftmals nur ein Kult des Sichtbaren versteckt hielte. Eine solche Fetischisierung, wie sie auch den großen Tafelbildern der Düsseldorfer Fotografie nachgesagt wird, lässt sich an Bergers Arbeiten nicht festmachen. In der Projektion hat der Fotograf eine Präsentationsform gefunden, dessen transitorische Struktur den Zweifel gleich mittransportiert, den Zweifel am richtigen Moment und an der Gültigkeit der Bildbehauptung, die er fortwährend formuliert. Hinter der strengen Sequenz der so illusionsreich angelegten Bilder wird etwas Paradoxes sichtbar: zum einen die Konstruktion des Fotografen, die uns die stete Wiederkehr desselben Ausschnitts nicht als ein vertieftes Verständnis der Wirklichkeit vorführt, sondern allenfalls als ihre verdichtete Repräsentation; zum anderen seine feste Entschlossenheit, uns etwas von dieser Realität unablässig zu sehen zu geben.

Florian Ebner

© 2016 Frank Berger